SPEYER

Beauty and Ugliness

09.05. – 29.06.2025

☞ INDUSTRIEHOF SPEYER

Vernissage: 8. Mai, 18 Uhr

Die zweite Ausstellung des nomadischen Programm GENIUS LOCI. NOTES ON PLACES bezieht sich auf Vernon Lees Text Beauty & Ugliness: and Other Studies in Psychological Aesthetics von 1912. Lee demonstriert, wie Kunst als (Über-) Träger von Emotionen ein potentes Mittel der gesellschaftlichen Einigung oder als propagandistisches Werkzeug der Ausgrenzung eine dualistische Rolle zwischen Gefahr und Möglichkeiten in sich vereint: eine zentrale Entdeckung der modernen Ästhetik.

☞ Industriehof Speyer – Halle 2 

Bitte beachten Sie, dass das Betreten der Halle 2 nur auf eigene Gefahr möglich ist – der Kunstverein Ludwigshafen und der Industriehof Speyer übernehmen keine Haftung

  

KEVIN JEROME EVERSON, ENEJ GALA, ITAMAR GOV, AZIZA KADYRI, BRITTANY NELSON, ALEXIS STITELER

Die Celluloidfabrik Speyer wurde im Jahre 1897 gegründet und produzierte Rohzelluloid, der erste thermoplastische und bunt einfärbbare Kunststoff. Im Laufe der Jahrzehnte sind auf dem Gelände immer wieder neue Bauten hinzugekommen und einzelne Gebäude umgebaut worden. So ergibt sich ein architektonisch vielschichtiges Gelände, das als Erbe der Industriekultur stilistische Elemente mit funktionaler Bauweise kombiniert. Im Rahmen der Ausstellung zeigen wir in der Halle 2 künstlerische Positionen, die sich mit dem materiellen, sozialen und kulturellen Erbe von industrieller Infrastruktur im Kontext von Vernon Lees Verständnis von Ästhetik auseinandersetzen.

Park Lanes, eine Filmarbeit von Kevin Jerome Everson, ist eine achtstündige Meditation über Arbeit und Handwerk. Sie zeigt den Arbeitsalltag in einer Fabrik, die Bowlingbahn-Zubehör herstellt. Der Film spiegelt einen ganzen Arbeitstag wider und fängt den Rhythmus der Produktion und die Kunstfertigkeit der alltäglichen Arbeit ohne Kommentar ein. Er bietet eine einzigartige und eindringliche Perspektive auf das industrielle Leben und erzeugt so ein Gefühl der Nähe – Empathie mit Fremden durch künstlerische Vermittlung. Park Lanes verzichtet auf Kontextualisierung und lädt die Zuschauerinnen und Zuschauer ein, die Umgebung der Fabrik in Echtzeit zu erleben. Aufgrund seiner ambitionierten Länge nur selten gezeigt, ist Park Lanes eine filmische Hommage an die menschliche Genialität und Ausdauer und bietet eine zutiefst respektvolle und zum Nachdenken anregende Perspektive auf Arbeit, Zeit und die unbemerkte Schönheit industrieller Räume. 

Entgegen Kevin Jerome Eversons neutraler Darstellung reflektiert Aziza Kadyri in The Colorado Reminds Me of Syr-Darya und 9 Moons über Erinnerung, Vermächtnis und die miteinander verwobenen Geschichten von menschlichen und natürlichen Ressourcen sehr persönlich aus der Perspektive ihrer Familiengeschichte auf verschiedenen Kontinenten. Ein Tagebucheintrag ihres Großvaters während einer Reise in die USA ist der Ausgangspunkt der Arbeit: The Colorado Reminds Me of Syr-Darya. Diese Verbindung lässt die Parallelen zwischen den Zentren des Goldabbaus und der Baumwollproduktion in den USA und dem „weißen Gold“ der Baumwolle in Usbekistan erkennen – Elemente, die beide Regionen historisch geprägt haben. Kadyris Großvater wurde 1969 während des Kalten Krieges auf eine Austauschreise von der Sowjetunion in die USA geschickt, um die Effizienz moderner Baumwollentkörnungsmaschinen zu untersuchen – eine Erfindung, die den Bedarf an Sklavenarbeit in den USA nicht verringert, sondern sogar erhöht hatte. Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht ein rosa Stoff aus Taschkent – ein maschinengestickter Suzani, der für den 26. Kongress der Kommunistischen Partei gewebt wurde.

Die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte im Kontext globaler Kontexte zeigt sich auch in ihrer Arbeit 9 Moons. Diese befasst sich mit familiären „Herstories“ und den verworrenen Identitäten von Frauen in Usbekistan. Ausgangspunkt ist ein Gegenstand ihrer Urgroßmutter Oybibi – der Name bedeutet übersetzt „die Monddame“. Die Stickerei wurde in Stücke geschnitten und unter den vielen Mitgliedern der Großfamilie verteilt. Zwei der Fragmente sind nun in der Installation zu sehen neben zeitgenössischen Interpretationen der Künstlerin. Die Arbeiten sind mit Fäden verbunden und bilden einen nicht-hierarchischen Stammbaum.

In Brittany Nelsons Mordançage-Serie nutzt die Künstlerin Verzerrungsprozesse aus der Fotographie-Geschichte. Die bewegten Muster in diesen Reliefs entstehen durch heftige chemische Reaktionen. Durch das Auftragen von Mordançage-Lösungen auf Silbergelatine Abzüge bleicht Nelson ausgewählte Bereiche und hebt gleichzeitig bestimmte dunkle Farbtöne der Emulsion hervor. Diese Technik aus dem späten 19. Jahrhundert wurde allgemein für ihre starken Kontraste, präzisen Konturen und die Tiefe des Lichts geschätzt, und deshalb für die Erstellung lebensechter Porträts eingesetzt. Nelsons Nutzung der Technik in der Abstraktion erlaubt es ihr, die Materialität in den Vordergrund zu stellen – ähnlich wie die Cellulose, die einst in der Fabrik produziert wurde, ist die Technik heute fast nicht mehr in Gebrauch.

Enej Galas skulpturale Arbeit Wheelbarrow spielt mit vielen Gegensätzen: Schwerelosigkeit versus Funktionalität, Größenverzerrung und Materialität. Ein funktionaler Gegenstand – eine Schubkarre – geformt nur aus braunem Kunstfell, wird zu einem weichen Plüschgegenstand. Durch die ungewohnte Materialität gelingt es ihm einen alltäglichen Arbeitsgegenstand surrealistisch zu entfremden. Die Skulptur aus Kunstfell verliert jede Funktionalität und wirkt doch im Rahmen der Architektur wie ein natürlicher Bestandteil des Gebäudes. Die physische Anstrengung harter körperlicher Arbeit mit einer Schubkarre wird durch Galas humorvolle Interpretation aufgelöst. Sie steht im Kontrast zur historischen Realität des Arbeitsalltags in der Halle des Industriehofs.

Itamar Govs Arbeit The Witnesses ist eine fortlaufende Skulpturenserie, die sich mit der Rolle von Zeugen beschäftigt. Sie besteht aus abstrakten, evokativen und geschlechtslosen Figuren, die neugierig nach vorne gebeugt sind und alle in dieselbe Richtung blicken, beobachten, hinterfragen, sich an ein Ereignis, eine Person, eine Realität erinnern – etwas, das wir nicht sehen können. Wie ein stimmloser griechischer Chor, heilige apotropäische Figuren oder außerirdische Wesen haben die Zeugen nur kleine Augen, aber keine Münder oder andere erkennbare Merkmale, die es ihnen ermöglicht sich auszudrücken oder ihr Wissen weiterzugeben. Gruppiert und auf verschiedenen architektonischen Elementen platziert, blicken sie uns von vorne an, werden selbst zu Betrachtern und das Publikum zu Objekten ihres Interesses.

Alexis Stiteler bezieht sich ähnlich wie Gov auf antike Referenzen, um in ihrer künstlerischen Produktion alte Techniken der Textilverarbeitung weiterzuentwickeln. Fragmentarisch zeigen ihre Arbeiten sich wiederholende historische Objekte, die je nach Zeitgeschmack immer wieder neu interpretiert werden. Stiteler bewegt sich zwischen künstlerischer Arbeit und textiler Produktion. Die verwendeten Stoffe werden in Texas im Rahmen einer Erzeugergemeinschaft biologisch angebaut, in einer Spinnerei in North Carolina (einer von nur zwei in den USA, die Bio-Baumwolle verarbeiten) gesponnen und in Pennsylvania auf antiken Webstühlen gewebt. Da die Stücke von Alexis aus natürlichen, biologischen Materialien und pflanzlichen Farbstoffen hergestellt werden, sind sie frei von vielen schädlichen Chemikalien, einschließlich Pestiziden, Herbiziden und Schwermetallen, die bei der Herstellung von synthetisch hergestellten oder gefärbten Materialien und konventionell angebauten Naturfasern verwendet werden. 

☞ Industriehof Speyer – Halle 50

ZUZANNA CZEBATUL, MARCOS KUEH, THERESA LAWRENZ, GERMAIN MARGUILLARD, ELENA NJOABUZIA ONWOCHEI-GARCIA, PAOLA SIRI RENARD

Der erste Teil der Ausstellung in Halle 50 des Industriehofs Speyer konzentriert sich auf eine Erweiterung in der Darstellung singulärer historischer Narrative in Bezug auf Vernon Lees Annahme, dass künstlerische Repräsentation emotionale Reaktionen bei den Betrachterinnen und Betrachtern auslöst und so gesellschaftliche Realitäten beeinflusst.

Ein zentrales Werk im Raum ist Marcos Kuehs neue Arbeit: Telah Dapat Gading Bertuah, Terbuang Tanduk Kerbau Mati was auf Deutsch so viel wie „Das Horn eines toten Büffels entsorgen, nachdem man glückbringendes Elfenbein erworben hat” bedeutet. Die für die Ausstellung neu konzipierte Arbeit des Textilkünstlers bezieht sich auf seine malaysische Identität in Bezug zum westlichen Diskurs. Kueh untersucht die externe Wahrnehmung seines Landes, von kolonialen Beschreibungen in anthropologischen Museen auf der ganzen Welt bis hin zu Marketing Texten in Tourismuswerbung, und vergleicht diese Darstellungen mit seinen eigenen Erfahrungen in seiner Heimat, einer Kleinstadt in Borneo.

Die Künstlerin Zuzanna Czebatul arbeitet ebenfalls in Textil – sie zeigt in der Ausstellung eine Reihe monumentaler Wandteppiche. Die auf den Textilarbeiten dargestellten Bilder sind vergrößerte Details historischer Wandteppiche aus dem Mittelalter bis 1600. Neben ihrer praktischen Funktion dienten Wandteppiche historisch als Symbol von Macht und Reichtum und repräsentierten die Politik ihrer Epoche. So ließen Besitzerinnen und Besitzer immer neue Wandteppiche anfertigen, um mit der Mode zu gehen, aber auch, um neue Überzeugungen oder Ideologien öffentlich zu vermitteln. Die Gobelin-Manufakturen in Paris wurden zentraler Teil der Geschichte der Monarchien und der Bildung nationaler Identitäten. Czebatul zeigt in ihren Arbeiten so die Schnelllebigkeit oder „Mode“ in Machtverhältnissen, Moralvorstellungen und Weltanschauungen – was heute ein Tabu ist, kann schon morgen gesellschaftliche Norm werden.

Ihr gegenübergestellt sind Arbeiten der Bildhauerin Theresa Lawrenz. Die aus Beton, Holz und Stahl bestehende Installation manners ist eine Referenz an den Tisch ihrer Großmutter. Die persönliche Arbeit widmet sich der intimen Erinnerungskultur häuslicher, alltäglicher Objekte. Der Tisch ist jedoch nicht nur mit Kindheitserinnerungen verbunden: Er ist sowohl ein Ort der Hierarchie als auch ein Ort, an dem Regeln gelten und Manieren zu beachten sind. Mit ihren skulpturalen Artefakten und Installationen gelingt es Lawrenz, die Beziehung des eigenen Körpers zur Umgebung und allgemeine gesellschaftliche Normen, die unser Verhalten beeinflussen und bestimmen, zu reflektieren.

Die Verflechtungen architektonischer Formen und gesellschaftlicher Normen finden sich auch in Germain Marguillards Spiralen, Rosetten und Mandalas. Rätselhafte Details tauchen aus dem Schwarz auf und durchbrechen den ersten Eindruck einer minimalistischen und monolithischen Abstraktion. Seine halb organischen, halb geometrischen Figuren sind einer universellen sakralen Symbolik entnommen. Sie erinnern an die großen Spiritualitäten des Juden- und Christentums und des Islams sowie an die Sprache der Geometrie und Wissenschaft. Beispielsweise greift er in Halo die Form eines Radioteleskops und die eines Teilchenbeschleunigers in Show me the universe auf. In Resonance, eine Art Baptisterium, lauscht man einem Soundteppich mit Trommeln, Gedichten und Ansagen von Weltraumbehörden. Die Symbolik der Formen ist ebenso bedeutend wie die der Materialien: Marguillards Arbeiten in gebranntem Holz, schwarzem Ton und Stein erinnern an antikes Handwerk.

Elena Njoabuzia Onwochei-Garcias Installationen Fly on the Wall, thematisiert die (Un-)Sichtbarkeit marginalisierter Figuren in der (Kultur-) Geschichte. Die Malerei zeigt eine Verflechtung historischer und populärer Bilder und Erzählungen. Die immersive, monumentale Malerei bricht in ihrer Räumlichkeit mit der Zweidimensionalität klassischer Malerei. Sie bezieht die Betrachterinnen und den Betrachter und deren Körper in die Szenerie ein, um die Verbindung zwischen ihnen, dem Gemälde und dem Motiv zu betonen. Onwochei-Garcias fragt, wer ein Teil unserer Geschichte ist, wer dargestellt wird und aus welcher Perspektive. Führt man dies mit Vernon Lees Überlegungen zur Vermittlung von Mitgefühl durch Ästhetik, stellt sich die Frage: wem bringen wir Empathie entgegen und wem nicht?

Paola Siri Renards neue, ortsspezifische Arbeit Midway Kin greift auf zeitlose Elemente westlicher Architektur zurück, um kollektive Vorstellungswelten zu repräsentieren. Der industriellen Architektur angepasst, hinterfragt sie die kanonische Geschichte der westlichen Architektur und verknüpft ornamentale Stile von griechisch-römisch bis zum Jugendstil. Sie beschäftigt sich mit Fragen zum architektonischen Erbe und wie dieses unsere Wahrnehmung der Geschichte strukturiert, indem es dominante, kollektive Narrative beeinflusst. Ihre neue Arbeit untersucht diese Themen anhand einer Serie von fünf Skulpturen, die jeweils ein einzigartiges Pferdebein darstellen, ein Körperteil, das Kraft und Bewegung assoziiert und Fortbewegung ermöglicht. Von Hand in Lebensgröße (ca. 1,70 m) modelliert, sind diese Beine Stellvertreter eines Pferdes. Monumentale Reiterstandbilder im öffentlichen Raum prägen viele europäische Städte: Sie zeugen von vergangenen Schlachten, Herrscherinnen und Herrschern und den Machtverhältnissen, die sie vertreten und evozieren Ehrfurcht. Die hochstilisierten, idealisierten Pferdekörper fungieren als symbolische und reale Träger ihrer Reiter, sie demonstrieren durch ihre erhöhte die Position ihre Macht und die gesellschaftliche Struktur ihrer Zeit. Renards Fragmentierung der Pferdekörper dekonstruiert diese Machtstrukturen.