MAINZ
Vital Lies: Studies of Some Varieties of Recent Obscurantism
23.08. – 26.10.2025 — verlängert bis 30.10.
☞ SCHULE DES SEHENS, JOHANNES GUTENBERG-UNIVERSITÄT
☞ ABGUSSSAMMLUNG, INSTITUT FÜR ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN, JOHANNES GUTENBERG-UNIVERSITÄT
☞ MAINZER UNTERWELTEN E.V.
Was bedeutet Wahrheit in einer Zeit, in der sich Ideologien (erneut) gegeneinander ausspielen und Kunst zunehmend als Projektionsfläche gesellschaftlicher Spannungen dient? Ausgehend von Vital Lies: Studies of Some Varieties of Recent Obscurantism (1920), einer Sammlung an Essays der Schriftstellerin und Denkerin Vernon Lee versammelt die gleichnamige Ausstellung künstlerische Positionen, die sich mit der Fragilität von Wahrheit, der Rolle von Kunst in der Demokratie und der brüchigen Konstruktion von Gesellschaft auseinandersetzen.
Vernon Lee analysiert in Vital Lies, wie Ideologien entstehen, sich maskieren – und wie ästhetische Kategorien genutzt werden, um Machtverhältnisse zu verschleiern. Sie schreibt über das, was wir „wahrhaben wollen“ – und wie sich dahinter politische Interessen, Ängste und soziale Hierarchien verbergen. In Kunst und Kultur zeigt sich das besonders deutlich: Schönheit, Ideale und Geschichten können stabilisieren oder verschleiern. Sie können Gemeinschaft stiften oder Ausschluss produzieren. Lees Gedanken wirken heute alarmierend aktuell: Wenn Wahrheiten verhandelbar werden, wird auch der gesellschaftliche Zusammenhalt prekär. Die Kunst steht dabei im Zentrum – als Spiegel, als Verstärker, als Störgeräusch.
Die Ausstellung in Mainz ist die abschließende Station von GENIUS LOCI der nomadischen Ausstellungsreihe des Kunstvereins Ludwigshafen, die in den letzten Monaten in fünf Städten in Rheinland-Pfalz zu sehen war. Die Reihe untersuchte an wechselnden Schauplätzen, wie Kunst neue Zugänge zu Erinnerungen, Geschichte(n) und Orten schaffen kann.
Die Abgusssammlung der Universität Mainz bietet einen besonderen Rahmen für diese Themen. Die Gipsfiguren des 19. Jahrhunderts, ursprünglich geschaffen zur Vermittlung klassischer Ideale, tragen selbst Spuren ideologischer Konstruktion. Gipsabgüsse waren mehr als bloße Repliken: Sie dienten dazu, kulturelle Hierarchien zu festigen – zwischen Antike und Moderne, Zentrum und Peripherie, Norm und Abweichung als Träger kolonialer und klassizistischer Machtstrukturen. Sie dienten dazu, einen vermeintlich universellen (westlichen) Kanon zu zementieren – und setzten Schönheit mit Ordnung, Wahrheit mit Autorität gleich. Diese Zusammenhänge greifen die eingeladenen Künstlerinnen und Künstler auf – konfrontierend, subversiv, poetisch.
In der Ausstellung begegnen die Abgüsse zeitgenössischen Arbeiten von Sophie Jung, Elena Onwochei-Garcia, Itamar Gov, Hélène Fauquet, Panos Profitis, Gideon Horváth und Ilê Sartuzi. Ihre Werke stellen den scheinbar festen Boden historischer Wahrheit in Frage und eröffnen neue Perspektiven auf das Verhältnis von Kunst, Körper, Macht und Erinnerung.
SCHULE DES SEHENS, JOHANNES GUTENBERG-UNIVERSITÄT
In der Schule des Sehens ist das monumentale Gemälde A Communion Rite featuring the Slave Leader, Tiresius and other characters, Pentheus and the Tricked King von Elena Onwochei-Garcia (*1996, lebt und arbeitet in Glasgow) als Hauptwerk der Ausstellung inszeniert. Die Arbeit ist inspiriert von Die Bakchen des Euripides, genauer von Wole Soyinkas Adaption A Communion Rite. Soyinka schrieb das Stück während seines Exils in Großbritannien – uraufgeführt 1973 am Old Vic in London. Seine Version erweitert das antike Drama um einen Chor versklavter Figuren, um die politischen Unruhen in Nigeria zu reflektieren, und verändert das Ende: Aus dem Kopf des Königs Pentheus fließt Blut, das sich in Wein verwandelt.
Onwochei-Garcias Malerei überträgt diese Transformation des antiken Stoffes in eine visuelle Sprache – als vielschichtiges Ritual zwischen Gewalt, Gemeinschaft und Erinnerung. Die Arbeit steht frei im Raum und ist so als dreidimensionales Objekt erfahrbar. Onwochei-Garcias Malerei auf Papier – das sie selbst herstellt – zeigt die Charaktere aus A Communion Rite. Die Arbeit bezieht historische italienische Maltraditionen – von Renaissance bis Barock – in ihre Bildsprache ein, doch die Überlagerung von Aquarell, Gouache und Tinte, die Verschmelzung von Ornament, Figuration und Raum sowie die freie, raumgreifende Präsentation führen zu einer eigenständigen, zeitgenössischen Interpretation.
Mit Torso I greift Gideon Horváth (*1990, lebt und arbeitet in Budapest) das klassische Motiv des idealisierten Körpers auf, das seit der Antike als Maßstab für Schönheit diente – ein zeitloses Fragment, das in seiner makellosen Oberfläche Schönheit, Männlichkeit und Begehren verkörpern sollte. Der neben Horváths Werk präsentierte antike Gipsabguss zeigt jedoch die Konstruiertheit dieser Ideale: Seine beschädigte Oberfläche legt Schicht um Schicht Farbe, Staub und Gebrauchsspuren frei. Was als ewiges Bild des Perfekten gilt, erscheint so als historisch gewachsen, verändert und immer auch brüchig.
Horváths Torso I antwortet auf diese Fragilität mit einem Material, das von Natur aus Veränderung in sich trägt: Bienenwachs. Es ist weich, verletzlich, hitzeempfindlich und doch beständig – ein Stoff, der auf Berührung reagiert und die Körperlichkeit, die er formt, als fluide und ambivalent erfahrbar macht. Die Skulptur spielt auf die Göttin Artemis von Ephesos an, deren viele Brüste für Fruchtbarkeit und Überfluss stehen, und kombiniert dies mit der Darstellung eines männlichen Glieds. So entsteht ein Körper, der sich eindeutigen Zuschreibungen entzieht und sexuelle Mehrdeutigkeit sichtbar macht. Im Dialog mit den antiken Abgüssen entlarvt Horváths Arbeit die Illusion des „ewigen Ideals“ und eröffnet eine queere Gegenfigur: einen verletzlichen, transformierbaren Körper, der ebenso wie das Material selbst niemals abgeschlossen, sondern immer im Werden ist.
ABGUSSSAMMLUNG, INSTITUT FÜR ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN, JOHANNES GUTENBERG-UNIVERSITÄT
Der Ausstellungsabschnitt beginnt mit einer Ouvertüre: Olympia von Itamar Gov (*1989, lebt und arbeitet in Berlin, Paris und Bologna). Mit seiner Arbeit eröffnet Gov einen Dialog zwischen der bestehenden Abgusssammlung und den zeitgenössischen Positionen. Unter einer verstümmelten Abgussfigur – mit herausgerissenem Arm, beschädigten Oberflächen und verzerrtem Gesicht – entfaltet sich Govs Werk wie ein leiser, eindringlicher Kommentar auf die glatten, idealisierten Körper der Sammlung. Auf einem metallenen Operationstisch liegen Gehirne aus Gips und Wachs, klinisch präzise und zugleich brutal fragmentiert. Während die klassischen Abgüsse der Sammlung nur die (scheinbar) makellose äußere Form zeigen – die Büsten großer Feldherren, Philosophen, Dichter, Denker und Universalgelehrter –, sind diese innerlich hohl, leer. Govs Arbeit in Verbindung mit der beschädigten Skulptur erscheint wie eine poetische Intervention: als hätte er die Gehirne, Gedanken und das Innenleben der Büsten gesammelt, ihre Verletzlichkeit, Fragilität und die Spuren von Gewalt und Zeit sichtbar gemacht. Er öffnet das Innere, das sonst verborgen bleibt, und führt den Blick auf das Fragmentarische, das Verletzliche und das, was hinter den glatten Fassaden der Ideale liegt. Olympia lädt ein, die starren Ideale zu hinterfragen, die Abgüsse neu zu sehen und bereitet den Kontext, in dem Sophie Jungs Arbeiten mit Spiel, Humor und Fragilität auf die Sammlung antworten.
Sophie Jung (*1982, lebt und arbeitet in London und Basel) inszeniert die Abgusssammlung der Universität Mainz als Abfolge von Szenen, in denen sich antike Ideale, fragile Rekonstruktionen und alltägliche Objekte zu neuen Erzählungen verbinden. Den Auftakt bildet das Ensemble um die Arbeit the prey. Das Ensemble entfaltet sich wie ein Theater: vorne Athena, rechts Diana, links der Apollo Belvedere, der über Jahrhunderte als Inbegriff männlicher Schönheit diente und von Dürer bis Michelangelo bewundert wurde. Athena Lemnia lenkt die Besucher:innen: dunkel gefasst, dem Schimmer einer Bronze nachempfunden, erhebt sie den Arm und verweist auf Jungs erste Arbeit: the prey. Die Geste lenkt den Blick auf eine skulpturale Beute – ein aufgetürmtes Polyestertuch, durchsetzt von spitzfindigen Details, brüchig und spielerisch zugleich.
Auch die Athena selbst trägt die Spuren von Brüchigkeit und Erfindung: Ursprünglich ein Werk des Phidias im 5. Jahrhundert v. Chr., ist sie nur in Rekonstruktionen überliefert. Adolf Furtwängler kombinierte 1893 einen Kopf aus Bologna mit einem Körper aus Dresden, ergänzte Arme, Hände, Helm und Lanze und schuf so ein scheinbares Ideal. Das Werk wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört, lebt aber in einem Bronzenachguss in Stettin fort. Fragmente und Fantasien verschmolzen zu einer Figur, die dem Auge wie ein „Original“ erscheint – ein Paradox, das Jung in ihrer Arbeit spielerisch offenlegt.
In the prey begegnen den Besucher:innen eine gelbe Polyesterdecke, eine Porzellanschnecke und ein echtes Rehkitzfell, das direkt auf die hinter ihr thronende Diana von Versailles verweist. Diana, Göttin der Jagd, erscheint seit der Antike mit Reh: Beschützerin und Jägerin zugleich. In Jungs Arbeit wirkt das Fell wie eine Spur von Unschuld und Opfer – eine Beute, die Athena selbst zu präsentieren scheint. Als humorvolle Brechung fügt Jung zudem eine abgefallene Nase aus der Sammlung ein, eine kleine Geste, die auf die Fragilität der scheinbar ewigen Idealbilder verweist. Zwischen diesen Figuren setzt Jung alltägliche Dinge in Szene, die sich mit antiken Gesten verweben. Monumentalität und Kitsch, Humor und Ernst, Vergänglichkeit und Dauerhaftigkeit verschränken sich zu einer zeitlosen Sprache, die die Sammlung zugleich reflektiert und neu belebt.
Der Weg führt weiter, hinaus aus diesem klassischen Bühnenbild, in die Schatten des Kellers. Dort lugt ein Fisch-Wippspielzeug mit Zorro-Maske schelmisch um die Ecke. Eine herabhängende Lüftungsklappe verrät den Wasserschaden des Raumes, den Jung mit getrockneten Seepferdchen kommentiert, während „Neptun Balls“ wie ein treuer Hund am Boden liegt. Hier spielen nicht die Götter, sondern ihre vergessenen Begleiter: Figuren im Schatten, oft übersehen, doch mit eigener Agenda, tückisch und komisch zugleich. Eine Büste mit Maske fügt sich hinzu – neuer Charakter oder nur passives Spielzeug? Mit wenigen Handgriffen verleiht Jung der Büste eine Stimme und einen eigenen Tonfall.
Dann öffnet sich der Raum zu einer Szene voller Dramatik. Diana, ein Reiterstandbild aus Alltagsmaterialien, dominiert den Saal. Ein umgestülpter Fetteimer wird von einem Gartenstuhl geritten, Lanzen durchbohren das Ensemble. Eine Camel-Schachtel trägt ein diabolisches Gummitier, dass das Fell eines erlegten Stofftiers um die Schultern trägt. Gewalt, Ironie und Spiel verweben sich. Hinter dieser Arbeit spannt sich der Abguss der Gigantomachie vom Pergamonaltar auf: Athena und Nike im Kampf, Gaia, die aus der Erde steigt und fleht. Wieder begegnet uns Athena, ihr Schild bildet den Hintergrund zu Jungs Lanzen. Die ringenden Körper des Frieses spiegeln die Wucht und Emotionalität der Arbeit. Die Gipsfiguren ringsum wenden den Besucher:innen den Rücken zu, ihre Blicke auf die Szene gerichtet. Sie sind stille Zeugen, stummes Publikum einer Gewalt, die sich in Vergangenheit und Gegenwart fortschreibt.
Jungs letzte Inszenierung ist eine stille, fragile Geste: in a cozy little fire lehnt ein Foto von arbeitenden Frauen in Italien, von zwei Eisenstangen an die Wand gedrückt, hinter einem Gartenstuhl. Darauf liegt ein Kopffragment: im stillen Terror erstarrt, der Mund zu einem endlosen Schrei verzogen. Davor eine Prozession von Figuren, eine Parade, deren Blicke sich kreuzen und doch ins Leere laufen. Sie wirken wie Schaulustige, die interagieren und zugleich einsam verharren. So führt Sophie Jung durch eine Abfolge von Szenen, in denen Fragmente, Ideale und Alltagsgegenstände in immer neue Rollen treten. Göttinnen und Helden, Nebenfiguren und Objekte verschmelzen zu einem Theater, das zwischen Humor, Kitsch und Scharfsinn changiert – und der Abgusssammlung eine unerwartete Stimme verleiht.
Ilê Sartuzi (*1995, lebt und arbeitet zwischen London und São Paulo) verbindet in seinen Arbeiten Video, mechatronische Apparaturen und theatrale Settings. Besonders seine Videoarbeiten stellen die Frage nach der Konstruktion von Bildern und ihrer Macht, den Vorstellungen von Körper, und wie diese Geschichte und Kanon prägen. Im Kontext der Abgusssammlung gewinnen diese Arbeiten besondere Schärfe. Die Gipsabgüsse klassischer Skulpturen verkörpern das westliche Ideal des Körpers: glatt, vollständig, normierend. Sie zeigen ausschließlich Oberfläche, nie das Innere, und bekräftigen damit eine hierarchische Ordnung, in der das „Kanonische“ unberührt und erhaben bleibt.
Sartuzis Videos dagegen legen Brüche und Mechanismen offen. Sie verschieben den Fokus vom repräsentierten Ideal zur Infrastruktur, von der glänzenden Oberfläche zum Prozess ihrer Konstruktion. Indem er virtuelle Körper fragmentiert, Bildschichten überlagert und mechanische Träger sichtbar macht, unterwandert er die museale Rhetorik der Vollkommenheit. Seine Arbeiten zeigen, dass jede Form der Darstellung – ob Gipsabguss oder Videoprojektion – ein künstliches Gefüge ist, das Hierarchien herstellt.
Im linken Teil der Sammlung stehen sich Panos Profitis (*1988, lebt und arbeitet in Athen) und Hélène Fauquet (*1989, in Frankreich, lebt und arbeitet in Paris) gegenüber. Zwischen drei fragmentierten Kopfskulpturen entfaltet sich Profitis’ Aluminium-Relief true to his own spirit. Es rezipiert die griechische, hellenistische Antike, spielt mit der Verzerrung des antiken Kanons und verweist auf die Mechanismen, die in einer Abgussammlung omnipräsent sind: Kopien, Rekonstruktionen und Idealisierungen, die das Original in fragmentarischer und interpretierter Form bewahren. Profitis verbindet das Profil eines männlichen Porträts mit einer kauernden, dämonischen Kreatur, die dem Kopf innewohnt, und verweist – wie Itamar Gov – auf das geistige Innenleben der Skulpturen. Die Verschmelzung von Schönheit und Groteske schafft einen Dialog zwischen klassischer Ästhetik und modernen industriellen Materialien.
Hélène Fauquet inszeniert Muscheln in opulent-kitschigen Rahmen und vor schillernden, fast surrealen Hintergründen. Zwischen Souvenir und Fetisch oszillieren ihre Arbeiten spielerisch zwischen Nostalgie und zeitgenössischer Bildsprache. Wie Vernon Lee in Vital Lies beschreibt, kann Schönheit zugleich als scheinbar unpolitische Oberfläche wirken und dennoch politische Systeme stützen, indem sie Ideale verfestigt. Im Kontrast zu den Skulpturen der Abgusssammlung, die glatte Körperoberflächen als ewige Wahrheiten konservieren, entlarven Fauquets Muschelbilder diesen Mechanismus: Sie zeigen Schönheit als verführerisches Konstrukt, das Wahrheit verspricht, aber immer auch Projektion und Ideologie bleibt.
Vernon Lees Diagnose, dass die gefährlichsten Lügen jene sind, die wir uns im Namen von Schönheit, Geschichte oder Ordnung selbst erzählen, wirkt heute erschreckend aktuell. Zwischen den Brüchen der Abgüsse und den zeitgenössischen Arbeiten eröffnet sich ein Raum, in dem deutlich wird: Wahrheit ist kein fixierbares Ideal – sie ist ein umkämpftes Terrain, in dem Kunst sowohl Spiegel als auch Widerstand sein kann.